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KAPITEL 6
Kriegszeiten

Heute kann man sich kaum vorstellen, dass es Zeiten gab, in denen die Tegeler hohe Abgaben leisten mussten und hungerten. Dass es Zeiten gab, in denen Bomben fielen, Menschen starben und andere flohen. Und dass es Zeiten gab, in denen Zwangsarbeiter eingesetzt und Menschen verfolgt wurden.

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Berliner Straße 84/Ecke Veitstraße 41 im Jahr 1945

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Schlieper Straße 21, Treskow Straße 14 und 16 (Trümmerhaufen) 1946
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Zerstörte Sechserbrücke 1946

1806 zogen Napoleons Truppen in Berlin ein und verheerten bis 1807 die umliegenden Dörfer. Etwa die Hälfte des Dorfes Tegel brannte nieder. Zudem musste die Bevölkerung, auch die Tegeler Anwohner, für den Unterhalt der französischen Truppen aufkommen. Sie musste Getreide und Fleisch liefern und zudem noch Geld zahlen.

Der Erste Weltkrieg folgte – und die Tegeler wurden als Reservisten und Landwehrmänner aufgestellt. Sie zogen nach Belgien oder Frankreich in den Krieg. Mindestens 549 Tegeler kamen nicht zurück und starben an den Fronten. Zehn Männer galten als vermisst.

Hakenkreuzfahnen hingen auch in Tegel: Nachdem die Nationalsozialisten 1932 als stärkste Partei bei der Reichstagswahl hervorgegangen sind, übernahmen die Nationalsozialisten überall Machtpositionen. Ihre SA-Truppen schüchterten die politischen Gegner ein und gingen teils sehr brutal vor – vor allem gegen Bewohner der Freien Scholle, wo nur wenige Anwohner der NSDAP nahestanden. Es folgten Hausdurchsuchungen und Misshandlungen, Anwohner wurden in Tegel eingeschüchtert. Der Reinickendorfer Bürgermeister wurde abgesetzt, und in Tegel wurden drei NSDAP-Ortsgruppen gegründet, ein Heim der Hitlerjugend befand sich im Hofgebäude Alt-Tegel 40. Im Jahr 1937 fuhr sogar Hitler durch die geschmückten Straßen Tegels.

Während der Reichskristallnacht am 9. November 1938 schlugen auch in Tegel Menschen die Schaufensterscheiben jüdischer Geschäftsinhaber ein, unter anderem beim Herrenbekleidungsgeschäft von Hermann Großmann in der Berliner Straße 4 und dem Herrenschneider Jokischewski in der Berliner Straße 95. Heinrich Tannenzapf hatte zu diesem Zeitpunkt sein Textil-Kaufhaus Tegel bereits verkauft und wanderte nach Amerika aus.

1941 begannen Deportationen nach Polen – und nur selten gab es Hilfe. Die versteckt lebende Ella Heidemann aus Pankow kam 1943 für acht Monate beim Ehepaar Hilgenfeld in der Schlieperstraße 12 und anschließend beim Tegeler Lehrer Hermann Klein unter. Geistig oder psychisch kranke Tegeler wurden als „lebensunwertes Leben“ im Zuge der Euthanasie-Aktion umgebracht.

In den großen Werken wie den Borsig-Werken wurde die Rüstungsproduktion vorangetrieben. Adolf Hitler besuchte am 10. Dezember 1941 das Werk von „Rheinmetall Borsig“ und hielt eine Rede vor den Rüstungsmitarbeitern. Ein Jahr zuvor war bereits Innenminister und Reichsmarschall Göring dort gewesen.

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Kurhaus-Reservelazarett in der Campestraße 11, 1915

Heute kann man sich kaum vorstellen, dass es Zeiten gab, in denen die Tegeler hohe Abgaben leisten mussten und hungerten. Dass es Zeiten gab, in denen Bomben fielen, Menschen starben und andere flohen. Und dass es Zeiten gab, in denen Zwangsarbeiter eingesetzt und Menschen verfolgt wurden. Was in der Welt geschehen ist, ist auch im heute so beschaulichen Tegel geschehen.

Tegel wird erstmals im Jahr 1322 urkundlich erwähnt und dieses Datum gilt als „Geburtsjahr“ des Dorfes. Doch die erste erhalten gebliebene Urkunde stammt vom 12. Februar 1361. An diesem Tag verkaufte Johannes Wolf, ein Bewohner der Stadt Cölln bei Berlin, das ihm gehörende Dorf Tegel samt Tegeler Mühle an das Benediktinerinnenkloster St. Marien in Spandau. Der Preis: 60 Mark Brandenburgisches Silber. Eine Mark entsprach damals rund 230 Gramm Silber. Der Markgraf Ludwig der Römer bestätigte die rechtliche Übertragung des Dorfes auf das Kloster – und es blieb fast zwei Jahrhunderte im Besitz der Nonnen. Es war die Zeit der Raubritter, die plündernd durch die Lande zogen. Da das Dorf Tegel einem Kloster gehörte, blieb es meist von Übergriffen der Raubritter verschont. Allerdings wurden die Tegeler am 3. September 1410 Zeugen der „Schlacht an der Tegeler Mühle“ zwischen Berliner Bürgern und den Raubrittern Dietrich und Hans von Quitzow.

Es kamen harte Zeiten auf die Tegeler zu – die Lasten der Reformation wogen schwer. Tegel gehörte ab 1558 dem brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. Die Beamten des Kurfürsten setzten die Dienstpflichten für die Bauern drastisch herauf. Die Tegeler Bauern durchlebten schwere Leidenszeiten. Die folgenden 300 Jahre waren gekennzeichnet von schwerer Last durch Heide Dienste, Verwüstungen durch Soldaten in den verschiedenen Kriegen, und die immer wieder grassierende Pest.

Da war der 30-jährige Krieg. 1626 erreichten die dänischen Truppen die Mark Brandenburg. Die Bevölkerung musste die Soldaten ernähren – ohne Hoffnung auf irgendeine Entschädigung. Besonders auf dem Land, so auch in Tegel, waren die Menschen den Plünderungen
der Soldaten ausgesetzt. Einige Tegeler versteckten sich samt ihrem Vieh auf den Inseln im Tegeler See.

Dann kam die schwedische Besatzung – doch die Situation blieb dramatisch für die Bewohner. 1637 breitete sich eine Hungersnot aus. Von den Entbehrungen, Plünderungen und Hunger entkräftet, breitete sich die Pest aus. Die Schweden wüteten ein weiteres Mal. Sie hinterließen extreme Verwüstung. Tegel war besonders betroffen. Die meisten Menschen waren tot oder geflohen, die Äcker waren verwüstet.

Zwar war der 30-jährige Krieg 1648 beendet, aber das Elend blieb. Die Menschen mussten an den Kurfürsten horrende Kriegssteuern leisten, die sie immer weiter verschuldeten. Im dritten Schlesischen Krieg Mitte des 18. Jahrhunderts belagerten die verbündeten Truppen Berlin. Die Stadt ergab sich, dennoch folgten Misshandlungen und Vergewaltigungen.

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Viele haben Hitler und Göring zugejubelt, aber es gab auch heimlichen Widerstand. Unter anderem war die Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“, zu deren Mitgliedern auch Hans und Hilde Coppi gehörten, und die Gruppe Mannhart aktiv. Letztere war im November 1942 im Werk von Rheinmetall-Borsig vom Heiligenseer Arzt Dr. Max Klesse gegründet worden. In den Flugblättern, die im Werk verbreitet wurden, wurde zur Sabotage an den Rüstungsgütern, zum Langsam-Arbeiten und zum Krankmachen aufgerufen, um die Rüstungsindustrie zu schwächen. Im November 1943 wurden zwölf Mitglieder der Gruppe verhaftet, sieben von ihnen zum Tode verurteilt. Heute erinnern Stolpersteine an die Mannhart-Gruppe.

Um die Rüstungsindustrie voranzutreiben, wurden in Tegel auch Zwangsarbeiter beschäftigt. Sie waren in mehreren mit Stacheldraht umzäunten Lagern, unter anderem östlich des Bahnhofs Tegel mit bis zu 1.000 Lagerinsassen und auf dem Gaswerksgelände an der Bernauer Straße 96/136 einquartiert. Weitere Lager von Rheinmetall-Borsig befanden sich am Jacobsenweg, in der Holzhauser Straße 42, am Erholungsweg und am Osianderweg. Auch Gaststätten wie der Alte Fritz und die Waldhütte wurden für die Unterbringung von Zwangsarbeitern gemietet. Das Lager am Krumpuhler Weg dient heute als Ort der Erinnerung.

Es fielen Bomben auf Tegel, viele Gebäude wurden komplett zerstört. Ob Veit- oder Schlieperstraße, Gorkistraße oder Tile-Brügge-Weg, der Krieg hinterließ seine Spuren. Am Ende kämpften kleine Hitlerjungen und ältere teils kriegsversehrte Männer mit Karabinern und Knüppeln gegen die russischen Truppen. Russische Panzer fuhren auf der Promenade am See in Richtung Tegel. Tegeler hatten ihrerseits weiße Tücher zur Kapitulation aus den Fenstern gehangen.

Dann war der Krieg vorbei, Kriegsfertigungsmaschinen wurden demontiert, die Rüstungsindustrie beseitigt. Die Siegermächte teilten Berlin unter sich auf, und am 12. August 1945 wurden Reinickendorf und Wedding als „Französischer Sektor“ an die Französische Militärregierung übergeben.

Nun, mehr als sieben Jahrzehnte ohne Krieg, ist in Tegel von den Zerstörungen nichts mehr zu sehen. Mahnmale, Gedenk- und Stolpersteine erinnern jedoch an das dunkle Kapitel der Geschichte. Für die Jüngeren von uns fühlt sich der Frieden als etwas Selbstverständliches
an. Doch blicken wir zurück, erkennen wir alle, dass Frieden selten und kostbar ist. Und jeder Einzelne kann durch sein Verhalten, seine Toleranz und Akzeptanz anderen gegenüber dazu beitragen, dass es auch weiterhin so friedlich bleibt.

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Waidmannsluster Damm 41, 43, 45, 49 und 51
samt Haltestelle Liebfrauenweg 1946/47
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